Die Grundtendenz des Lebens ist die Erreichung von Freude

Freude und Leid

1-1 Die Grundbefindlichkeit des Lebens Leid oder Freude ?

Schon der primitive Urtyp des Lebens musste sich et- was für seine Freude ›einfallen‹ lassen. Darin bestand nicht nur das Geheimnis seines Überlebens, sondern – und vor allem – seines Lebensvollzugs. Denn ein wahr- hafter Lebensvollzug ist ohne Freude undenkbar. Oder wie Maulavi (sufischer Großmeister1273) in folgen- dem Vers sagt:

»Ich bin fehl am Platze und entfremdet in dem, das Freude macht.Ich bin erst ich an dem, woran ich Freude habe.«

In Freude also erfährt der Mensch nicht nur sein eigenes Selbst, sondern auch seine Wesenseinheit mit dem göttlichen Ganzen, dessen starker und ursprünglicher Ausdruck die Liebe ist.

Alles Leben, alles Lebende, strebt nach dem, was Freude macht, gleichsam wie alles Lebende nach der Sonne strebt.

Negativ gesprochen: Alles Lebende wendet sich von dem ab, was Unfreude bringt – Leid und Schmerz. Zum Leben gehören also Freuden und Leiden. Weder das eine noch das andere decken sich ganz mit dem Leben ab. Das Leben ist mit der Freude nicht eins; das Leben ist aber auch mit dem Leid nicht eins. (Das letzte aber be- hauptet BUDDHA!) Auch entsteht nach jeder Freude zwingend kein Leid, es sei denn, man hat das Maß über- schritten. Nur im jenseitigen Leben gibt es eine Tren- nung: Pure Freude im Paradies – schieres Leid in der Hölle, so jedenfalls die herkömmlichen Religionen!

Der Mensch steht im Spannungsfeld dieser zwei Grundtendenzen: Hin zur Freude, weg vom Leid. Er steht nicht in bestimmten Zeiten in diesem Spannungsfeld, sondern eigentlich immer, jede Sekunde, und das wäh- rend des ganzen Lebens. Alle Bewegungen des Menschen verfolgen direkt oder indirekt das gleiche Ziel, nämlich Freude zu erlangen. Negativ gesprochen: Man läßt auch hin und wieder gewisse Taten, weil man eben das obige Ziel im Auge hat. Bewegungen des Menschen sind Handlungen.

Sie sind wie folgt:

  1. a  – bewußte Handlungen,
  2. b  – direkte Handlungen,
  3. c  – unbewußte Handlungen,
  4. d  – indirekte Handlungen,
  5. e  – bewußte und direkte Handlungen
  6. f  – bewußte und indirekte Handlungen,
  7. g  – unbewußte und direkte Handlungen,
  8. h  – unbewußte und indirekte Handlungen.

Aber auch das Nichtstun ist eine Handlung, die bewußte oder unbewußte Formen hat.

Alle oben genannten Handlungen können individuell oder gemeinschaftlich ausgeführt werden. Eine Handlung ist also eine Bewegung, die – bewußt oder unbewußt – direkt oder indirekt eine Freude zum Ziel hat. Deshalb nennt man die Handlungen des Menschen sinnvoll, weil sie den Zweck verfolgen, Freude zu erlan- gen oder Leid abzuwenden. Dagegen ist eine Handlung sinnlos, wenn sie diesen Zweck verfehlt. Die Energie, die man für diese Handlung aufgebracht hat, ist vergeu- det, es sei denn, man hat daraus gelernt für die Zukunft.

1-2 Ökonomie des Handelns

Die ersten Bewegungen des Neugeborenen sind auf Freude ausgerichtet: Atmen, Milchtrinken usw. Erst nach und nach erfährt das Kind, daß Freuden nicht immer pa- rat stehen, daß man für sie etwas tun muß. Um sinnlose Handlungen zu vermeiden, muß man also lernen, mit seiner Lebensenergie sparsam umzugehen. Als Zeichen der Reife wird die Lebenskunst gewertet, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und Energien (Kräften) das höchst mögliche Maß an Freude zu erreichen.

Denn zweierlei sind Zeichen der Unklugheit: Erstens, wenn man mit verhältnismäßig wenig Mitteln und Kräf- ten übermäßig viel Freuden erreichen will, und zwei- tens, wenn die erreichten Freuden geringer ausfallen als die zur Verfügung stehenden Mittel und Kräfte.

Die „goldene Mitte“ ist besser, nämlich das optimale Maß an Freuden mit den verfügbaren Möglichkeiten zu erlangen!

Jeder Mensch hat mit seiner Geburt ein Anrecht auf Freuden, denn ein Leben ohne Freude ist undenkbar, und der Schöpfer hat das Leben auf Freude hin geschaffen. Aber wieviel Freude ich mit meinen Möglichkeiten und Kräften erlangen kann, ist eine Lebenserfahrung und be- darf des Lernprozesses.

Die Politik stellt in diesem Zusammenhang das En- semble öffentlicher Handlungen dar, die die Sicherung und Maximierung von Freuden bei gleichzeitiger Mini- mierung von Leiden zum Ziele hat.

Über dieses Thema siehe das Buch „Politik“ vom Autor.

1-3 Freude ist nicht Genußsucht

Freude steht am Anfang, dann kommt das Leid. So ist es vom Sein her gesehen. Praktisch aber muß oft eine Handlung ein gewisses Maß an Leid auf sich nehmen, ehe man zur Freude findet. So wird keiner Meister ohne die Mühe, ja die Qualen des langen Lernens. Die Freude über das Produkt der Arbeit hat oft viele leidvolle Sor- gen und Anstrengungen hinter sich. Planungen, Zielset- zungen und Strategien sind von daher für Menschen wich- tig. Der Mensch kann ohne Arbeit nicht leben, weil al- les, was er zum Leben braucht, nicht im Überfluß da ist. Deshalb muß er das „Leid“ der Arbeit für die ersehnten Freuden des Daseins in Kauf nehmen. Auch mit den Kin- dern ist es so: Die Freude über sie setzt eine große Be- reitschaft für Sorgen und Leiden voraus. Im Bereich der Wissenschaft, der Forschung und des handwerklichen Lernens ist es auch nicht anders. Gerade diese Wech- selbeziehung von Leid und Freude zeigt, daß Freude mit Genuß und Hedonismus nicht identisch ist. Wer nach reinem Genuß lebt, hat hier nichts zu suchen, denn hier ist das Leid gewissermaßen das Engagement und der Weg zur Freude.

Fragen und Überlegungen zum 1. Abschnitt:

Die Grundtendenz des Lebens ist die Erreichung von Freude

1 – Begründen Sie Ihrerseits die Unterschiede zwischen Freude, Lust, Amüsement, Genuß und Glück

2 – Machen Sie sich klar, an was Sie sich im Augen-blick und für die nächste unmittelbare Zeit freuen

3 – Bringen Sie für jede Form der Handlungen einige Beispiele.

4 – Besteht das ganze Leben aus Leid ? Besteht es aus Freude? Legen Sie dazu Ihre Meinung dar!

5 – Halten Sie die „Politik“, wie Sie sie kennen, verein- bar mit unserer Definition?

6 – Was sind Ihrer Meinung nach die äußeren Zeichen der Freude? Was die Inneren?

7 – Es gibt offensichtlich kleine und große Freuden: Nennen Sie einige Beispiele und beschreiben Sie diese mit kurzen Sätzen!