Rückwärtslaufen – Blick in die eigene Vergangenheit

Bewegungslehre, Sichtweisen

Das Rückwärtslaufen ist für den Betrachter vermutlich eine der skurilen Begegnungen am Tag. Zumindest lässt der Ausdruck auf den Gesichtern der Menschen das Annehmen.

Aus philosphischer Sicht betrachtet, kann man sagen das das vorwärts Gehen / Laufen – also wenn die Augen auf das bevorstehende Ziel, den Weg zum Ziel gerichtet sind, eine in eine mögliche Zukunft gerichtete Bewegung darstellt. Wir befinden uns zu einem Zeitpunkt X in der Gegenwart an einem Standort A und sehen einen Standort B auf den wir zulaufen. Diesen Standort B erreichen wir nach einer Zeit a zum Zeitpunkt Y. Die Zeit a ist die Differenz aus Zeitpunkt Y und X. Damit haben wir uns in die Zukunft bewegt, die nun wiederum unsere Zukunft darstellt. Der Standort A an dem wir zum Zeitpunkt X waren ist nun unsere Vergangenheit. Da wir aber die Augen auf die Zukunft gerichtet hatten, als wir uns aus unserer Gegenwart fortbewegten, konnten wir unsere Vergangenheit nicht mehr betrachten. In der Erinnerung ist sie noch vorhanden. Wird aber schon durch weitere Eindrücke und andere Erinnerungen verändert.

Bewegen wir uns aber rückwärts richten wir unseren Blick auf unsere Vergangenheit. Wir sehen permanent aus einer Gegenwart in eine der möglichen Vergangenheiten und gleichzeitig in die Vergangenheit, die wir für unsere Gegenwart gewählt hatten. Weiterhin können wir sagen, dass eine unserer möglichen Zukünfte, die wir nun aus den Augen verloren haben, unbestimmt ist.  Wir bewegen uns zwar in eine Zukunft aus der Vergangenheit kommend, sehen aber unsere Vergangenheit. Diese ist sehr klar.

Soziologisch betrachtet, schafft das rückwärts Laufen etwas großartiges wie ich finde. In eigenen Feldversuchen am kilometerlangen Strand von Sylt habe ich mehrfach die Probe auf das Exempel gemacht. Zu Stoßzeiten bin ich am Strand von Wenningstedt zwischen den Rettungsschwimmerkarren rückwärts gelaufen. Dabei konnte ich beobachten, wie meine Mitmenschen achtsamer wurden. Da die Menschen realisierten, dass ich ihnen rückwärts begegne, sie also nicht sehe, sind sie mir automatisch ausgewichen. Die Menschen blieben stehen. Sie zogen ihre Füße zurück. Machten sich durch Laute bemerkbar, um im nächsten Augenblick um mich herum zu laufen. Mich würde interessieren zu sehen, was passiert wenn ganze Gruppen in den Städten rückwärts liefen.

Physologisch betrachtet lösst das Rückwärtslaufen in einem selbst eine Menge neuer körperlicher Erfahrungen aus. Gleichgewicht bekommt ein neues Empfinden. Der Fuss wird nicht mehr über die Ferse sondern über den Ballen abgerollt. Die Haptik des Untergrundes und das Gefühl im Fuß – der Tastsinn – werden benutzt um die folgenden Schritte zu setzen und zu beurteilen, wo und wie der Schritt gelegt werden muss. Die Entscheidung dafür muss durch haptische Erfahrung und nicht durch visuelle Erfahrung erfolgen. Das Gehör wird gespitzt, um die Umgebung auf herannahende Hindernisse zu untersuchen.

Wenningstedt 03.09.2014